Yoel* verliess sein Heimatland Eritrea, in dem eine Diktatur herrscht, vor über fünf Jahren. Nachdem er vier Jahre in einem Flüchtlingscamp in Tigray, Äthiopien, verbracht hatte, brach in der Region Krieg aus. Ihm gelang die Flucht in den Sudan, der Mangel an Arbeitsmöglichkeiten veranlasste ihn aber schliesslich, weiter nach Libyen zu gehen. Nach seiner Ankunft wurde Yoel* mehrere Monate lang willkürlich in Kufra, einer Grenzstadt zum Sudan, und dann erneut in Tripolis, festgehalten, unter anderem in einem berüchtigten Haftzentrum namens Ghut Shaal in Gargaresh. Zwei Tage nachdem er auf dem Meer erneut dem Tod entkommen war, erzählte er uns an Bord der Ocean Viking einen Teil seiner Geschichte. Er batum Unterstützung für alle, die noch immer in Libyen festsitzen, insbesondere für Frauen und Kinder, um die er sich grosse Sorgen macht.
Am 16. Dezember am frühen Morgen wurde Yoel* zusammen mit 113 anderen Personen auf einem extrem überfüllten Schlauchboot gefunden. Unter ihnen auch Frauen, zwei Kinder unter acht Jahren und zwei Neugeborene im Alter von weniger als einem Monat. Sie hatten die ganze Nacht auf engstem Raum und ohne Schwimmwesten verbracht.
„Ich habe das Gefühl, dass ich an dem Tag, an dem ihr uns gerettet hab, neu geboren wurde. Ich werde diesen Tag zum Feiertag machen, um diesen Moment meines Lebens zu feiern.“
Zwei Tage nach seiner Rettung beschliesst Yoel*, dass er seine Geschichte erzählen möchte.
„Ich kann dir nicht sagen, was ich gesehen habe und was in Libyen passiert ist. Mir fehlen die Worte“, sagt er. „Ich habe gesehen, wie Menschen geschlagen, getötet und vergewaltigt wurden.“
Yoel* erklärt, dass er in Libyen ohne jeglichen Prozess oder Zugang zu grundlegenden Menschenrechten von einem Internierungslager ins nächste kam. Bei seiner Ankunft an der Grenze zum Sudan wurde er in Kufra sofort willkürlich inhaftiert. Er kam erst wieder frei, als er genug Geld gesammelt hatte, um seine Wärter zu bezahlen. „Wenn du zahlst, kommst du frei. Wenn du nicht zahlst, wirst du verprügelt. Nach fünf Monaten habe ich es geschafft, mit Hilfe anderer Leute zu bezahlen“. In der Hoffnung, Arbeit zu finden, beschloss Yoel* daraufhin, nach Tripolis zu gehen. Doch er erzählt, dass die Milizen beschlossen, alle Ausländer in ein „Gefängnis“ zu bringen: „Wir blieben dort zwei Wochen lang unter schrecklichen Bedingungen. Es herrschte grosser Hunger. Wir wurden von den Wachen geschlagen, und sie gaben uns erst etwas zu essen, als wir kurz vor dem Sterben waren. Wir haben sehr gelitten und beschlossen zu protestieren und diesen Ort zu verlassen. […] Die Regierung verfolgte uns, sie jagten uns auf den Strassen. Sie schossen auf uns… Ich war einer derjenigen, die einen Schuss ins Bein bekamen. Ich fiel hin und verlor mitten auf der Strasse das Bewusstsein. […] Viele Menschen wurden an diesem Tag getötet.“ Er erzählt, dass er gesehen hat, wie die Leichen von Verstorbenen in Mülltonnen weggeworfen wurden. „Sie wurden nicht einmal auf einem Friedhof begraben“, erinnert er sich. Andere starben im Krankenhaus, sagt Yoel* aus. Ihm zufolge befanden sich etwa 2.500 Menschen im „Ghut Shaal“ Internierungslager.
Als auf ihn geschossen wurde, dachte Yoel*, er würde sterben. Die Leute teilten Bilder von ihm, wie er verwundet auf der Strasse lag. „Meine Familie dachte, ich sei tot. Es war sehr traurig“, flüstert er. Schliesslich wurden er und andere Verletzte in ein Krankenhaus gebracht, wo sie behandelt wurden. Doch nach einem Monat mussten sie das Krankenhaus verlassen: „Weil wir nicht zahlen konnten, forderte uns das Krankenhaus auf zu gehen“, erklärt er. Als er mit den anderen das Krankenhaus verliess, gingen sie in den berüchtigten Slum von Gargaresh in Tripolis. Dieser ist für willkürliche Razzien gegen Migrant*innen und Flüchtende bekannt ist: „Jede Nacht kamen Leute und bedrohten uns, um unsere Handys und unser Geld zu stehlen“.
„An dem Tag, an dem wir Libyen verliessen, hatte ich beschlossen, dass ich mich ins Wasser stürzen und sterben würde, falls die libysche Küstenwache kommen sollte. Viele der Personen, die mit mir auf dem Boot waren, hatten beschlossen, das Gleiche zu tun.“
„Ich bitte euch, euer Bestes zu tun, um den Menschen zu helfen, die noch in Libyen [in Inhaftierungslagern] festgehalten werden. Bitte helft diesen Menschen“. Besonders besorgt ist Yoel* um die willkürlich inhaftierten Frauen: „Es gibt viele Misshandlungen von Frauen. Sie müssen einen hohen Preis zahlen, um aus dem Gefängnis entlassen zu werden, und selbst wenn sie viel zahlen, werden sie nicht freigelassen.
„Wir wissen, was mit den Frauen im Gefängnis geschieht und warum sie dort festgehalten werden. Auch jetzt sind noch Frauen in diesem Gefängnis. Ich bitte euch alle, eine Lösung für diese Frauen zu finden.“
Jetzt hofft Yoel*, dass er sein Leben seiner Familie widmen kann. „Ich habe Kinder, und ich möchte, dass sie ein besseres Leben haben als das, das ich hatte. Alles, was ich tue, ist für sie“, sagt er. „Heute bin ich so glücklich.“
Über mehrere Tage befand sich Yoel* zusammen mit den anderen 113 auf dem Achterdeck der Ocean Viking. Er schlief auf dem Boden eines Containers, der als Unterkunft für die Männer dient, und ernährte sich von hyperproteinhaltigen Nahrungsrationen. Während er darauf wartete, an einem sicheren Ort von Bord zu gehen, gab es für ihn und die anderen Überlebenden weder Intimität noch Komfort. Doch für Yoel* war dieses Schiff ein Paradies. „Mehr will ich nicht“, sagte er.
„Seit ihr uns gerettet habt, sehe ich, wie respektvoll ihr uns behandelt, verglichen mit der Art, wie wir in Libyen behandelt wurden.“
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*Der Name wurde geändert, um die Identität des Überlebenden zu schützen.
Gesammelt von Abdelfetah Muhamed, IFRC Post-Rescue Facilitator und Laurence Bondard, SOS MEDITERRANEE Kommunikationsbeauftragter an Bord der Ocean Viking
Fotonachweise: Laurence Bondard / SOS MEDITERRANEE