Von den etwa 85 Personen, die eine Woche zuvor von Zawiya in Libyen aufgebrochen waren, wurden bei der Rettungsaktion am 13. März nur 25 von unseren Rettungsteams ausfindig gemacht. Wie kann es sein, dass dieses Boot nicht schon früher gerettet wurde, obwohl die Überlebenden erwähnten, dass sie zweimal überflogen worden waren? Dieser Einsatz hat unsere Teams schwer belastet, und sie berichten hier über diese dramatische Rettung.
„Sie waren eine Woche allein auf dem Meer ohne Aussicht auf Hilfe“
„Ich habe einen Mann getroffen, der seine Frau und sein eineinhalbjähriges Baby während der Überfahrt verloren hat“, erzählt Lucille, Kommunikationskoordinatorin an Bord der Ocean Viking. „Das Baby starb in den ersten Tagen, die Mutter am vierten Tag. Zweimal flog ein Hubschrauber über das in Seenot geratene Boot. Die schiffbrüchigen Personen haben in der Hoffnung, gerettet zu werden, laut geschrienen und gewunken, aber nichts ist passiert.“
An diesem 13. März gegen 10.15 Uhr war die Ocean Viking auf dem Weg zur Position eines anderen Bootes, das vom Hilfsflugzeug Sea Bird 2 gemeldet worden war, das sich 49 Seemeilen entfernt befand, als ein winziger grauer Fleck am Horizont auftauchte. Die Rettungsboote machten sich sofort auf den Weg, um die Lage zu erkunden.
Charlie, der seit den ersten Rettungsaktionen der Aquarius im Jahr 2016 als Seenotretter in unseren Teams tätig ist, hat andere Schiffsunglücke, darunter auch tödliche, wie das vom 22. April 2021, gesehen. Daher erkannte er sofort fest, dass es sich um eine ungewöhnliche Situation handelte.
„Als wir uns für eine erste Einschätzung näherten und sahen, wie wenig Menschen sich in dem Schlauchboot befanden, spürte ich, dass etwas nicht stimmte … Aber als wir ihren Zustand sahen, kamen schreckliche Bilder in mir hoch, ich ahnte, was ihnen wirklich passiert war – was später durch ihre Aussagen bestätigt wurde.“
Patrick, ebenfalls Seenotretter, berichtet folgendes: „Es war ein Boot, das inmitten der Wellen schwer zu lokalisieren war. Aber je näher wir kamen, desto klarer wurde uns, dass es ungewöhnlich wenig Personen an Bord hatte. Als wir ankamen, winkten ein paar Leute schwach mit den Armen und verhielten sich ansonsten aber sehr still. Zwei bewusstlose Personen lagen auf dem Boden des Bootes. Ein Mann wiederholte dreimal „Viele Menschen sind gestorben“.“
Innerhalb von 30 Minuten brachten die Einsatzteams die 25 schiffbrüchigen Personen auf die Ocean Viking, wo sie vom medizinischen Versorgungsteam umgehend betreut wurden, das sofort einen entsprechenden medizinischen Notfallplan in die Wege leitete.
„Ein anderer Überlebender nannte mir seinen Namen. Ich versuchte, ihn zu trösten, wusste aber nicht, ob er mich hören konnte.“
PATRICK, SENNOTRETTER
Aber in diesem Moment musste sich sich Patrick auf seine Aufgabe konzentrieren: Er musste eine der beiden bewusstlosen Personen an Bord seines Rettungsbootes untersuchen.
„Als ich mein Ohr an sein Gesicht hielt, konnte ich ein gurgelndes Geräusch aus seiner Lunge hören. Um seinen Mund herum hatte er gelben Schleim. Seine unbeweglichen Augenlider waren praktisch geschlossen, bis auf einen kleinen Schlitz, der das Weiss seiner Augen zeigte. Es war schwierig, ihn in eine Bergungsposition zu bringen, da seine Gliedmassen steif waren“.
Die beiden bewusstlosen Männer wurden dann zur Behandlung durch das Ärzteteam an Deck der Ocean Viking gebracht, das sie jedoch nicht wiederbeleben konnte. Die Ärzte baten die italienischen Seefahrtsbehörden sofort um eine medizinische Notevakuierung. Es war 17.20 Uhr, als der Hubschrauber der italienischen Küstenwache die Evakuierung nach Sizilien durchführte. Später erfuhr das Team, dass einer der Überlebenden verstorben war. Die Aussagen der Überlebenden bestätigten auch die Vermutungen der Mannschaft: Nach drei Tagen war der Motor ausgefallen. Ohne Wasser und Nahrung mussten sich die Schiffbrüchigen sich damit begnügen, Meerwasser zu trinken. Nach und nach starben etwa 60 Menschen.

Von den 25 geretteten Überlebenden wurden zwei Personen umgehend intravenös behandelt, während die anderen Notfälle in der Frauenunterkunft versorgt wurden, die in einen Behandlungsraum für Erste-Hilfe-Massnahmen umgewandelt worden war. In solchen Situationen werden alle Team-Mitglieder zur Unterstützung herangezogen.
Im Rahmen des medizinischen Notfallplans musste Schiffsärztin Anne, unterstützt von Rebecca, der Leiterin des Pflegeteams, und einem weiteren Mitglied des medizinischen Teams, 25 Überlebende, die „am Rande ihrer körperlichen Belastbarkeit“ waren, gleichzeitig versorgen.
„Zwei Männer waren bewusstlos, viele andere unterkühlt, fast alle waren extrem dehydriert und hatten Meerwasser getrunken, um zu überleben. Alle waren psychisch schwer angeschlagen, nachdem sie Dutzende von Menschen, darunter auch Familienmitglieder, in ihrem seeuntauglichen Boot hatten sterben sehen.“
Rebecca erklärte: „Die Überlebenden hatten Schwierigkeiten, Flüssigkeiten oder Nahrung zu sich zu nehmen, und benötigten Hilfe beim Stehen oder Gehen und bei ihren täglichen Bedürfnissen. Viele von ihnen wiesen mehrfache Hautverbrennungen auf, die besondere Pflege und häufige Verbandswechsel erforderten, um Infektionen zu vermeiden.“
Während das medizinische Team den traumatisierten Menschen erste physische und psychologische Hilfe leistete, baten andere in Seenot geratene Boote um Hilfe. Am Abend wurde eine weitere Rettungsaktion durchgeführt und am nächsten Tag, dem 14. März, zwei weitere, sodass insgesamt 361 Menschen gerettet werden konnten, darunter auch schwangere Frauen und Kinder.
Heute ist die Ocean Viking wieder einsatzbereit, nachdem die Besatzung ausgetauscht und das Schiff betankt wurde. Die 23 Überlebenden der ersten Rettungsaktion wurden in Catania an Land gebracht, während die Überlebenden der anderen drei Rettungsaktionen nach mehreren Tagen auf See in Ancona an Land gingen.
Als die Rettungssanitäterin Therese das halbleere Boot fand, stellte sie sich sofort die Szene vor: „Geliebte Menschen, mussten ins Meer geworfen werden. Auch heute noch ist ihre Betroffenheit enorm. „Sie trieben seit einer Woche verlassen im Meer. Verlassen trotz aller Gesetze, die zur Hilfeleistung für Menschen in Gefahr verpflichten. Es sind 24 Überlebende, die aussagen können. Und wir mit ihnen“.