«Er hat uns immer gesagt: Ich werde euch töten! » Ein unbegleiteter Minderjähriger erklärt, warum er beschlossen hat, sein Leben auf See zu riskieren, um aus Libyen zu fliehen.

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Ibrahim*, 15 Jahre alt und aus Gambia, wurde am 18. September 2021 von der Crew auf der Ocean Viking gerettet, nachdem sein Boot von der Seabird, einem Flugzeug von Sea-Watch, gesichtet worden war.

Ohne Begleitung eines Erwachsenen ist er von der libyschen Küstenstadt Sabratha, in einem kleinen, seeuntüchtigen Holzboot mit 24 weiteren Personen geflohen. Darunter waren zwei Frauen und ein einjähriges Baby. Sie hatten keine Schwimmwesten, Wasser oder Nahrung an Bord. Wenige Tage nach seiner Rettung erzählte Ibrahim einem unserer Teammitglieder, warum er das Risiko auf sich nahm, zu ertrinken, anstatt in Libyen zu bleiben. In den vier bis fünf Monaten, die er in dem Land verbrachte, wurde Ibrahim wiederholt verprügelt, mit einer Waffe bedroht und erfuhr, dass einer seiner Jugendfreunde getötet wurde.

«In Libyen sterben Menschen, und ihre Familien wissen nicht, dass sie tot sind.»

Nach einer langen Reise aus Gambia, auf der er «viel harte körperliche Arbeiten verrichtete, die ihm sein Vater nie zugetraut hätte», verbrachte Ibrahim fast fünf Monate in einer «Hölle», wie er es nennt. In Libyen erlebte er unzählige Demütigungen, Gewalt und Missbrauch. Um Arbeit zu finden, ging er zusammen mit anderen, die im Land festsassen, zu einem Ort, an dem Menschen für schwere Arbeiten wie Gipser oder Zementhersteller «ausgewählt» wurden. «Wir arbeiteten von 8 Uhr morgens bis 19 Uhr abends für 5 Dinar am Tag [weniger als 1 Euro]. Das reicht nicht mal, um zwei Tage lang zu essen», erklärt er. Aber das waren eigentlich die einfachsten Momente seines Aufenthalts in dem Land. «Es ist sehr, sehr traurig. Ich hatte nicht erwartet, dass ich Libyen so vorfinden würde», sagt er. Auf der Strasse wurde Ibrahim wiederholt geschlagen. «An einem Tag wurde ich grundlos mit dem Rücken eines Gewehrs geschlagen. Ich habe immer noch eine grosse Narbe an meinen Füssen.» Auch dem Tod begegnete Ibrahim in den ersten Tagen nach seiner Ankunft: «In Libyen sterben manchmal Menschen, und ihre Familien wissen nicht, dass sie tot sind. Ich kannte einen gambischen Jungen aus meiner Heimatstadt, der vor mir im Land ankam. Als ich mich nach ihm erkundigte, erfuhr ich, dass er ins Gefängnis gesteckt wurde und gestorben ist. Als ich nach dem Grund fragte, sagte man mir, er sei bei einem Fluchtversuch erschossen worden.»

Kein anderer Fluchtweg als das Meer

Ibrahim sagt, er sei «entmutigt» gewesen, als ihm das Ausmass an Gewalt und Schikanen in dem Land bewusstwurden. Er wollte um jeden Preis von Libyen weg, selbst wenn es hiess, in sein Heimatland zurückzukehren. Aber das konnte er nicht: «Es gibt nur einen Flug zurück nach Gambia. Manche Leute warten sechs Monate bis ein Jahr auf einen Rückflug, und das ist sehr teuer.»

Ein Mann sagte ihm, er könne versuchen, über das Meer zu fliehen. Also fuhr Ibrahim nach Sabratha, eine der wichtigsten Küstenstädte im Westen Libyens. Dort verbrachte er einen Monat, «an einem Ort, der wie ein Gefängnis ist».

«Der Wachmann hat uns immer gesagt: «Ich werde euch töten! Ich werde euch töten!»»

Ibrahim und die Hunderte von Menschen, die sich mit ihm in dieser Art Gefängnis befanden, hatten kaum Nahrung und Wasser, keine medizinische Versorgung und wurden regelmässig schikaniert und bedroht. «Meistens haben wir nur einmal am Tag gegessen. Wir bekamen Essen, das seit 2020 abgelaufen war. Auch das Wasser war salzig. Einigen Menschen wurde durch das salzige Wasser so schlecht, dass sie einen Monat lang nicht auf die Toilette gehen konnten. Ein Freund, der von der Ocean Viking aus demselben Boot wie ich gerettet wurde, konnte gestern zum ersten Mal seit zwei Wochen wieder auf die Toilette gehen», erzählt er mit zu Boden gerichteten Augen. Selbst das Sprechen war nicht erlaubt. «Wenn man redet, bekommt man Probleme», flüstert er, ohne genaueres zu erzählen. Ibrahim fürchtete das Leben, wie er es in Libyen kannte, schon vor seiner Gefangenschaft durch die Schmuggler, aber beim Warten auf die Flucht über das Meer, wurde es von Stunde zu Stunde noch schlimmer: «Wenn der Wachmann rauchte oder betrunken war, schoss er wahllos auf Leute oder richtete seine Waffe auf uns und sagte, dass er uns eines Tages töten würde, wenn wir nicht aufpassen. Er sagte uns immer: ‘Ich werde euch töten! Ich bringe euch um!’, ohne jeden Grund. Eines Tages fragte ich, warum? Was haben wir getan? Er sagte mir: ‘Ich hasse dich’. Er sagte mir, dass er mich persönlich hasste, weil ich ein Tank-Top trug. Von diesem Tag an trug ich immer lange Ärmel. Selbst wenn es heiss war, zog ich meine Jacke an.»

An dem Tag, an dem Ibrahim gemeinsam mit der Gruppe, mit der er unterwegs war, das Holzboot bestieg, nahm der Mann sein Telefon und löschte alles, was Ibrahim besass. «Ich habe alle meine Telefonnummern verloren, aber ich habe die meines Vaters und meiner Mutter im Kopf», sagt er erleichtert. Libyen hat ihm gelehrt, dass er sich nur auf sich selbst verlassen kann.

Wenn die Angst, abgefangen zu werden, stärker ist als die Angst vor dem Sterben

Als er das kleine, seeuntüchtige Holzboot sah, bekam Ibrahim aus mehreren Gründen Angst. Der Hauptgrund seiner Angst war, dass die libysche Küstenwache ihn abfangen würde, und nicht das Ertrinken. «Als ich das Boot sah, dachte ich zuerst an die libysche Küstenwache. Ich hatte Angst, abgefangen zu werden. Es ist ein Glücksspiel. Die libysche Küstenwache wird einige Leute mitnehmen und andere zurücklassen. Ich wusste nicht, was mir passieren würde. Ich musste um jeden Preis versuchen, zu entkommen.» Ibrahim hatte auch Angst vor dem schlechten Zustand des Bootes, aber er hatte keine Kontrolle darüber: «Wenn du die Reise abbrechen möchtest, nachdem du den schlechten Zustand des Bootes gesehen hast, wird auf dich geschossen.», sagt er.

Ibrahim zeigt eine Narbe, die einen Schlag mit einem Gewehrrücken bezeugt © Laurence Bondard / SOS MEDITERRANEE

Wir werden nie vergessen, aber wir müssen verzeihen

Als er auf dem Boot sass, barfuss, die Beine zwischen die Arme geklemmt und mit einem Handy ohne Kontakte, legte Ibrahim den Kopf in den Nacken, sah niemanden mehr an und begann an seine Eltern zu denken. «Ich habe meiner Familie versprochen, sie eines Tages zu unterstützten. Das ist ein Versprechen, das ich erfüllen muss. Wenn ich sterben würde, was würde dann mit ihnen passieren? Daran habe ich gedacht», erzählt er. Am Morgen des 18. September, gegen 9 Uhr, nachdem sie etwa 7 Stunden auf dem Meer verbracht hatten, sahen Ibrahim und die anderen an Bord in der Ferne einen kleinen Punkt. «Ich dachte, es sei die libysche Küstenwache. Ich war sehr traurig. Wenn ich nach Libyen zurückgeschickt worden wäre, wäre das sehr schlimm gewesen. Als ich dann die beiden Schnellboote auf mich zukommen sah, dachte ich, dass unsere Gebete endlich erhört wurden. Ich werde nie vergessen, was ich in meinem Leben durchgemacht habe. Aber ich muss verzeihen. Es ist wie die Sklaverei, die meine Vorfahren erleiden mussten. Wir werden nie vergessen, aber wir müssen verzeihen.»

 

*Der Name des unbegleiteten Minderjährigen, wurde zum Schutz seiner Anonymität geändert.

Fotonachweis: Laurence Bondard / SOS MEDITERRANEE

 

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